Beziehungen
5
min Lesezeit

Wenn das Ich nicht zum Wir passt

Veröffentlicht am
16/11/23
Wenn das Ich nicht zum Wir passt
Autor:in
Saskia Sattler
Coach
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Ob mich die anderen mögen werden? Ob ich angenommen werde? Ob ich gehört und gesehen werde? Es sind Fragen wie diese, die vermutlich vielen von uns durch den Kopf gehen, wenn wir uns in einem neuen sozialen Kontext bewegen und auf eine uns unbekannte Gruppe stoßen. Ausschlaggebend hierfür ist ein Grundbedürfnis nach Zugehörigkeit, dessen Erfüllung ein grundlegender Antrieb menschlichen Handelns zu sein scheint. Selbst unter widrigen Bedingungen setzen wir alles daran, ein Gefühl sozialer Verbundenheit zu erzeugen, und sind gleichzeitig bereit, dafür hohe Bürden auf uns zu nehmen.

Denn, wie Ergebnisse der Glücksforschung, der Neurowissenschaften sowie der Gesundheits- und Sozialpsychologie zeigen, sind soziale Beziehungen entscheidend für die persönliche Entwicklung und Lebenszufriedenheit sowie für das psychische und physische Wohlbefinden. Forschungsergebnisse lassen vermuten, dass es dabei weniger auf die Quantität und mehr auf die Qualität und Kontinuität sozialer Beziehungen ankommt, damit wir uns wohl und zufrieden fühlen.

Jegliche Hinweise auf den Verlust oder das Nichtzustandekommen von sozialen Verbindungen führt zu einem Erleben von Bedrohung und zu negativen Gefühlszuständen, die sich in asozial erscheinendem Verhalten äußern können. Im äußersten Fall werden diese Personen möglicherweise als unangepasst, verhaltensgestört, neurotisch oder destruktiv klassifiziert. Gleichzeitig ist das Fehlen sozialer Beziehungen und das damit einhergehende Gefühl von Einsamkeit mutmaßlich oftmals ursächlich für psychische Krisen und Störungen wie beispielsweise Depressionen, Angstzustände, Essstörungen, Drogen- oder Alkoholsucht.

Dem Bedürfnis nach Zugehörigkeit scheint folglich ein besonders hoher Stellenwert zuzukommen, dessen Befriedigungsgrad sich der Empirie zufolge auf unsere psychische Verfassung auswirkt. Um dem Bedürfnis zu entsprechen, entwickeln wir von Geburt an eine soziale Identität, die sich an gesellschaftlichen Werten, Normen und Konventionen orientiert. Diese ermöglicht es uns, uns im sozialen Kontext zu bewegen und soziale Verbindungen einzugehen. Doch was geschieht, wenn Menschen der sozialen Norm nicht entsprechen?

Minderheiten in Gruppen: Same same but different

Das Streben nach dem Gefühl der Zugehörigkeit ist eng mit dem Feststellen, Entdecken und Erleben von Gemeinsamkeiten mit anderen verbunden. Gleichzeitig besteht auch ein Bedürfnis nach Einzigartigkeit, um sich als Individuum in Abgrenzung zu anderen wahrnehmen und definieren zu können. Folglich bewegen wir uns kontinuierlich auf einem Kontinuum zwischen diesen beiden Extreme auf der Suche nach einem für uns stimmigen Gleichgewicht. Bei diesem Balanceakt stellt sich ein adaptives, kontextabhängiges Selbstkonzept als unterstützend heraus. Je nach Situation schlüpfen wir in eine uns angemessen erscheinende Rolle, ohne uns dabei selbst zu verleugnen.

Für Personen, die aufgrund äußerlicher oder persönlicher Merkmale nicht der gesellschaftlichen Norm entsprechen, kann dieses ausgleichende Streben mitunter eine besondere Herausforderung darstellen, da sie im Außen immer wieder die Rückmeldung erhalten, anders, sprich normabweichend zu sein. Per Definition gehören sie damit zu einer Minderheit, welche für sich genommen wiederum eine soziale Gruppe und somit identitätsstiftend ist.

Auf Dauer kann dies einerseits dazu führen, dass diese Menschen dazu tendieren, sich auf dem beschriebenen Kontinuum durch überproportionale Selbststereotypisierung [1] und Depersonalisierung [2] mehr in Richtung Zugehörigkeit und Gemeinschaft zu bewegen. An dieser Stelle sei betont, dass es sich hierbei um einen inneren Prozess und nicht um eine aktive positive Selbstdarstellung im Außen handelt, es sei denn dies entspräche der gültigen Norm. Andererseits könnten die Betroffenen auch den gegensätzlichen Weg wählen und durch bewusste Abgrenzung die eigene Individualität stärker betonen und ausprägen, was wiederum im Widerspruch zu dem Grundbedürfnis der Zugehörigkeit stünde. Dieser Prozess könnte auch dadurch forciert werden, dass sie, selbst bei Betonung der Gemeinsamkeiten, von ihrer Umwelt dennoch als normabweichend wahrgenommen werden, sodass letztlich die innere Überzeugung gestärkt wird, anders zu sein. Dies hemmt wiederum eine konstruktive, förderliche soziale Identitätsentwicklung, wodurch es zu psychischem Stress und einem Erleben von innerem Druck kommen kann.

Für welchen Weg und welche Strategie sich Personen mit normabweichenden Merkmalen entscheiden, ist dabei von verschiedenen Faktoren abhängig, wovon in diesem Artikel nur einige wenige oberflächlich betrachtet werden können: Einer der Einflussfaktoren scheint zu sein, ob das normabweichende Merkmal von außen sichtbar und somit auf den ersten Blick wahrnehmbar ist. Sofern dies der Fall sein sollte, erfahren diese Menschen einerseits direkte, auf das Merkmal bezogene Rückmeldungen und können andererseits Menschen mit ebenjenem Merkmal in ihrem Umfeld identifizieren. Dadurch sind sie in der Lage, konsistente soziale Kategorien zu bilden und ihr Verhalten auf den jeweiligen sozialen Kontext anzupassen. Folglich sind diese Menschen nicht unbedingt unter Zugzwang, die Strategie der verstärkten Selbststereotypisierung anzuwenden.

Anders verhält es sich für Menschen, die sich für Außenstehende nicht sichtbar von der Masse abheben. Diese Menschen erhalten je nach Kontext möglicherweise widersprüchliche und inkonsistente Rückmeldungen zu ihrer Person und ihrem Verhalten. Insbesondere wenn sie selbst keine Kenntnis darüber haben, was zu dem normabweichenden Erleben führt, können sie diese Informationen nicht zuordnen. Auch haben sie kaum bis wenig Möglichkeiten, Menschen wie sie selbst zu identifizieren. Aufgrund dieser Umstände tendieren diese Menschen mittels Selbststereotypisierung dazu, sich der Gruppe, in der sie sich bewegen, anzupassen, sich jedoch gleichzeitig nicht zugehörig zu fühlen.

Hierbei kommt die gesellschaftliche Bewertung des normabweichenden Merkmals als ein weiterer Faktor zum Tragen. Wird das Merkmal als positiv erachtet und wertgeschätzt, neigen betroffene Personen dazu, sich in besonderem Maße als der Gruppe zugehörig zu fühlen, eine stärkere Differenzierung zwischen In- und Outgroup als üblich zu vollziehen, und sich über den Maßen mit der Gruppe zu identifizieren. Wenngleich auch jene Personen, deren normabweichendes Merkmal negativ bewertet wird, sich beispielsweise durch Überanpassung der Gruppennorm anzunähern versuchen, fühlen diese sich gleichzeitig der Gruppe weniger zugehörig oder gar sozial isoliert.

Ein etwas anderes Bild zeichnet sich ab, wenn sich Menschen mit gleichem normabweichendem Merkmal als Gruppe formiert haben. In diesem Fall führt eine negative Stigmatisierung der Mehrheit respektive der Gesellschaft dazu, dass sich die Gruppenmitglieder aus einer Schutzfunktion heraus stärker als zuvor ihrer (Minderheiten)gruppe zuwenden. Liegt hingegen eine positive Stigmatisierung vor, tendieren die Betroffenen dazu, sich von der Minderheitengruppe abzuwenden.

Fazit: Reden statt werten

Die Grundannahme vieler Modelle unterschiedlichster Disziplinen war lange Zeit, dass der Mensch ein egozentriertes Wesen ist, welches ausschließlich auf das Erreichen seines eigenen Vorteils bedacht ist. Neuere Forschungserkenntnisse kommen hingegen zu dem Schluss, dass das Gegenteil der Fall ist: Der Mensch ist ein soziales Wesen, das nach Zugehörigkeit und Gemeinschaft strebt, indem es seine Umwelt anhand sozialer Kategorien strukturiert und sich je nach sozialem Kontext und Anlass anpasst.

Um Menschen, die sich abseits der Norm bewegen, eine authentische Identitätsentwicklung bei gleichzeitigem Erleben sozialer Eingebundenheit zu ermöglichen, braucht es meines Erachtens mehr Aufklärung und Austausch über die vielfältigen Formen von Diversität und vor allem einen Wandel in unserem täglichen Miteinander weg von pauschaler Wertung, negativer Stigmatisierung und einseitigen Vorurteilen hin zu einer neugierigen, offenen und interessierten Haltung gegenüber der individuellen Einzigartigkeit. Denn ist es nicht die Einheit in der Vielfalt und die Vielfalt in der Einheit, die uns als Individuum und Gesellschaft (zusammen-)wachsen lässt?

[1] Das Individuum greift Erkenntnisse über die idealtypischen Gruppeneigenschaften auf und schreibt sich diese selbst zu, um auf diese Weise die Schnittmenge mit der Gruppe und die Passung zur Gruppe zu erhöhen.

[2] Sofern eine soziale Identität im Individuum aktiviert wird, kommt es gleichzeitig zu einer Art Deaktivierung der persönlichen Identität, die als Depersonalisierung bezeichnet wird: „...individuals tend to define and see themselves less as differing individual persons and more as the interchangeable representatives of some shared social category membership“(Turner et al., 1994, S. 455).

Verwendete Literatur:

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  • Baudson, T. G., & Ziemes, J. F. (2016). The importance of being gifted: Stages of gifted identity development, their correlates and predictors. Gifted and Talented International, 31(1), 19–32. https://doi.org/10.1080/15332276.2016.1194675
  • Baumeister, R. F., & Leary, M. R. (1995). The need to belong: Desire for interpersonal attachments as a fundamental human motivation. Psychological Bulletin, 117(3), 497–529. https://doi.org/10.1037/0033-2909.117.3.497
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  • Simon, B., & Hamilton, D. L. (1994). Self-stereotyping and social context: The effects of relative in-group size and in-group status. Journal of Personality and Social Psychology, 66(4), 699–711. https://doi.org/10.1037/0022-3514.66.4.699
  • TED (Regisseur). (2016, Januar 25). Robert Waldinger: What makes a good life? Lessons from the longest study on happiness | TED. https://www.youtube.com/watch?v=8KkKuTCFvzI
  • Tragakis, M. W., & Smith, J. L. (2010). The Relation Between Social Identity Integration and Psychological Adjustment: A Focus on Mainstream and Marginalized Cultural Identities. Identity, 10(3), 201–221. https://doi.org/10.1080/15283488.2010.495909
  • Turner, J. C., Oakes, P. J., Haslam, S. A., & McGarty, C. (1994). Self and Collective: Cognition and Social Context. Personality and Social Psychology Bulletin, 20(5), 454–463. https://doi.org/10.1177/0146167294205002
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